ISLAM UND ANDERE GLAUBENSRICHTUNGEN IM RELIGIONSUNTERRICHT

ISLAM UND ANDERE GLAUBENSRICHTUNGEN IM RELIGIONSUNTERRICHT

Religiöse Kompetenz als schulische Aufgabe

Analyse

Die einseitige Wahrnehmung von Religion erzeugt Angst. Deshalb muss das Verständnis zwischen Religionen und Kulturen durch religiöse Bildung gefördert werden.

Von Dominik Helbling

Die starke Präsenz des Themas Religion in den Medien ist eine erstaunliche Tatsache, glaubte man Gott doch längst tot. Einige Vertreter der Soziologie, die das Verschwinden der Religion voraussagten, wurden durch die hohe Zahl der Kirchenaustritte bestätigt. Die Einstellung zu Gott oder das Gebetsverhalten waren nunmehr Privatsache und dem öffentlichen Zugriff
entzogen.

Seit einiger Zeit schlägt das Pendel zurück. Zwar ist der Exodus aus den Landeskirchen noch immer immens, der Glaube der Menschen erfährt jedoch vielerorts wieder vermehrte Beachtung. Stars und Sternchen bekennen sich öffentlich zu Jesus, der Papst zieht Zehntausende in seinen Bann, und eine Person aus der Stadt Zürich begründete ihre Wahl John Kerrys bei der Aktion «Zürich wählt the President» mit den Worten: «Lieber Gott, nur nicht Bush!»

Viel stärker wird das Thema Religion allerdings im Zusammenhang mit Gewalt wahrgenommen. Es ist von Kreuzzug und Jihad die Rede. Für den 11. September 2001, die Anschläge am 11. März 2004 in Madrid oder den Mord an Theo van Gogh in den Niederlanden vor wenigen Wochen wird im schlechtesten Fall islamischer, im zweitschlechtesten islamistischer Terror verantwortlich gemacht. Meist geschieht diese Zuschreibung allerdings ohne eine genaue Klärung, wer oder was damit gemeint ist.

Diese Darstellung von Religion führt zu diffusen Ängsten in der Bevölkerung.

Die Menschen reagieren bereits massiv irritiert, wenn eine Migros-Angestellte ihrer muslimischen Identität auch während ihrer Arbeit Ausdruck verleihen möchte.

Auf verschiedenen Umlaufbahnen

Auf diese Weise wird ein Zusammenprall der Kulturen herbeigeredet und insbesondere der Islam mit Gewalt identifiziert. Wem aber würde es einfallen, den Brudermord unter Tamilen (TA vom 22. 11.) als hinduistischen Fanatismus zu bezeichnen? Unsere Wahrnehmung bleibt äusserst einseitig, solange wir die positiven Zugänge geflissentlich ausklammern. Oder wer hat -Hand aufs Herz - Mitte November einer muslimischen Familie ein frohes Zuckerfest gewünscht oder wird jüdischen Kindern zu ihrer Bar Mizwa oder Bat
Mizwa - also zu ihrer religiösen Mündigkeit - gratulieren? Zu welchem Puurezmorge werden Hindus eingeladen? Wer interessiert sich dafür, was in einer Pagode eigentlich geschieht?

Es ist keine gewagte Vermutung, dass es nur wenige sind. Dazu fehlt den meisten in unserem Land schlicht der Kontakt zu Andersgläubigen. Wir kreisen wie Planeten auf verschiedenen Umlaufbahnen, unsere Wege kreuzen sich nur selten. Deshalb ist es uns auch nicht möglich, uns in die kopftuchtragende Kassiererin hineinzuversetzen. Wir sind äusserst hilflos, wenn es darum geht, uns mit anderen Leuten über Religion zu unterhalten. In Interviews, die in Zusammenhang mit einer empirischen Studie an der Universität Luzern
geführt werden, beschreiben junge Erwachsene solche Situationen als grosse Herausforderung. Die Gespräche zeigen, dass es oft nicht an gutem Willen fehlen würde, sondern schlicht an der Kenntnis über religiöse Traditionen.

Interreligiöses Lernen

Not tut hier eine Bildungsoffensive, die ihren Namen auch verdient. Hartmut von Hentig, einer der einflussreichsten Pädagogen im deutschsprachigen
Raum, beschreibt Bildung griffig mit den Worten «die Sachen klären und die Menschen stärken». Es geht nach dieser Definition darum, Menschen den
Erwerb von Wissen und den Umgang damit zu ermöglichen. Das gilt auch für religiöse Bildung. Ihr Ziel ist religiöse Kompetenz. Man kann diesen Begriff
umschreiben als Fähigkeit, die eigene Kultur und Religion und die anderer zu verstehen und sich dazu aktiv und verantwortlich in Beziehung zu setzen.
Diese Handlungskompetenz ist schlicht notwendig, um den aktuellen religiösen Herausforderungen begegnen zu können: sachgerecht, offen und gleichzeitig selbstbewusst. Sie zu fördern, muss Sache der Schule sein, weil sie der genuine Ort der Bildung ist und weil dort Begegnungen zwischen Religionen nicht erst inszeniert werden müssen.

An dieser Stelle wird sicherlich der Einwand erhoben, mit dem Plädoyer für religiöse Bildung in der Schule wolle man ein bestimmtes Weltbild indoktrinieren und gar für die verschiedenen Religionsgemeinschaften rekrutieren. Diese Angst ist in dreifacher Hinsicht unbegründet:

Vom konfessionellen Unterricht kann man sich in der Regel abmelden.

Ethische und religionskundliche Grundbildung, wie sie beispielsweise im Kanton Luzern oder im Kanton Zürich eingeführt wird, soll von einer Klassenlehrperson der staatlichen Schule unterrichtet werden.

Transparente Lehrpläne und die Öffentlichkeit der Schule verhindern mögliche Versuche einer religiösen «unfreundlichen Übernahme».

Wer angesichts dieser hohen demokratischen Legitimation gegen religiöse Bildung ist und so interreligiöses Lernen verhindert, muss sich den Vorwurf
gefallen lassen, den kulturellen und religiösen Frieden in der Schweiz bewusst gefährden zu wollen.

Das fremde Eigene

Die Einführung eines neuen Faches steht in mehreren Kantonen unmittelbar bevor. Dennoch verliert der konfessionelle Unterricht nicht an Bedeutung. Im
Gegenteil: Eine wesentliche Ursache von Ängsten bildet neben dem unbekannten Fremden auch das unbekannte Eigene. Die Konfrontation mit anderen religiösen Traditionen und Einstellungen verunsichert angesichts der eigenen Standpunktlosigkeit doppelt. Konfessioneller Unterricht partizipiert an religiöser Bildung, indem er den eigenen religiösen Hintergrund zu klären versucht und auf diese Weise religiöse Kompetenz fördert.

Das gilt übrigens nicht nur für den christlichen Religionsunterricht. Wie das Beispiel in Luzern zeigt, wird durch den islamischen Religionsunterricht der Islam aus seinem Hinterhofdasein befreit, die Kinder verstehen ihre
Religion besser. Es kann nur im Interesse der Religionsgemeinschaften sein, religiös gebildete Anhängerinnen und Anhänger zu haben statt religiöser
Analphabeten. Ob ihre Schützlinge dadurch zu bekennenden Gläubigen werden und ihren Glauben als befreiend und hilfreich empfinden, liegt ausserhalb des
pädagogischen Einflussbereiches und bleibt deshalb unverfügbar.


Wir sind hilflos, wenn es darum geht, uns über Religion zu unterhalten.

© Tages-Anzeiger; 14.12.2004

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